Orkantief Xavier über Mitteleuropa am 05.10.2017
Ungewöhnlich früh startete die Sturmsaison 2017/2018 in diesem Jahr. Bereits Mitte September gab es an der Nordsee durch Sturm Sebastian Orkanböen, im norddeutschen Binnenland wurden Sturmböen, lokal auch schwere Sturmböen erreicht. Dadurch gab es - eben durch die belaubten Bäume - auch einige Schäden. Wesentlich dramatischer wurde die Situation dann Anfang Oktober. Am 05.10. entwickelte sich südlich eines ausgedehnten Sturmkomplexes über Nordeuropa westlich von Irland ein kleines Randtief, welches auf den Namen Xavier getauft wurde. Dieses zog als sogenannter Schnellläufer binnen 24 h bis Polen weiter. Das Tief entwickelte sich dabei nicht als ein Tief des Norwegischen Typs, sondern als Shapiro-Keyser-Zyklone.
Was ist eine Shapiro-Keyser-Zyklone?
Diese Tiefs entstehen in Gegenwart von viel Warmluft, welche nordwärts advehiert wird und auf kältere Luft aufläuft. Sie entstehen daher nicht unbedingt an der Frontalzone - also an der Grenze von warmer und kalter Luft über dem Nordantlantik. Das hat zur Folge, dass die Tiefs dieses Typs eine sehr ausgedehnte Warmfront besitzen. Diese führt in ihrer Ausprägung oft dazu, dass das Tief der Form eines Hammerkopfes ähnelt, weshalb diese Tiefs auch "Hammerkopfzyklone" genannt werden. Im Gegensatz dazu ist die Kaltfront aber nur schwach ausgeprägt. Diese läuft - zumindest über einen längeren Zeitraum - auch versetzt zur Warmfront dieser hinterher, ohne sie zu erreichen. Eine Okklusion (= Bereich, wo die Kaltfront die Warmfront eingeholt hat und sie qasi vom Boden abhebt), wie man sie von Tiefs des Norwegischen Typs her kennt, existiert dabei während der Reifung und während des Höhepunktes solcher Tiefs nicht. Eine weitere Eigenheit: Die Warmluft der Warmfront wickelt sich um den Kern herum und läuft rückseitig des Kerns wieder nach Süden in den Bereich des sogenannten Dry-Slots. Starke Tiefdruckentwicklungen weisen ein solches Förderband trockener und oft auch warmer Luft in der mittleren Troposphäre auf, welches sich in der Regel hinter der Boden-Kaltfront befindet. Beim Norwegischen Typ ist dieses Eindrehen der Warmluft direkt in den Dry-Slot hinein nicht derart ausgeprägt, da sich nahe des Kerns durch die schnell hinterjagende Kaltfront rasch eine Okklusion bildet. Diese angesprochene Eigenheit beim Shapiro-Keyser-Typ ist aber nicht ungefährlich, denn die Warmluft und die an sie gebundenen Niederschläge können bei günstiger Überströmung des Tiefkerns mit trockener Luft direkt in diese Luft hineinlaufen und verdusten. Das kann zur Ausbildung eines sogenannten Sting-Jets führen. In diesem verdunstet der Niederschlag, was zur Abkühlung führt. Die kühlere Luft ist natürlich schwerer und stürzt folglich zu Boden, wodurch nun auch der Höhenwind herabgemischt wird. So kann man sich das Ganze zumindest vereinfacht vorstellen. In der Realität sind jedoch noch weitere komplexe Faktoren zu berücksichtigen, auf welche hier aber nicht im Detail eingegangen werden soll. Im Bereich des Sting-Jets können schwere Orkanböen auftreten, welche deutlich über den herkömmlichen Böen liegen, die normalerweise durch Gradient- und Zugeschwindigkeit des Tiefs möglich wären. Sting-Jets sind folglich eine gefährliche Entwicklungsmöglichkeit von Shapiro-Keyser-Tiefs. Beispiele für ausgeprägte Sting-Jets finden sich bei Orkan Christan am 28. Oktober 2013 oder Xynthia am 28. Februar 2010.
Die angesprochenen Eigenschaften der Shapiro-Keyser-Zyklone sind im Vergleich zu einer Norwegischen Zyklone nachfolgend nochmal graphisch dargestellt:
Vereinfachter schematischer Vergleich einer Shapiro-Keyser-Zyklone mit einer Norwegischen Zyklone (dargestellt ist jeweils der Blick von oben auf ein solches System)
Orkan Xavier - Entwicklung über Deutschland und Polen
Doch nun weiter zu Xavier. Der Sturm erreichte mit seinem Kern unter rascher Vertiefung Hamburg gegen 13 Uhr. Der Luftdruck sank dort auf 988 hPa ab. Ab Mittag gab es an der Nordsee südlich und rückseitig des Kerns bereits erste Orkanböen, im Binnenland nun zunehmend schwere Sturmböen und orkanartige Böen. Bis 15 Uhr überquerte das Maximum des Starkwindfeldes Niedersachsen. Dabei gab es vor allem um Nienburg, Hannover und Braunschweig bis Lüneburg orkanartige Böen und Orkanböen (119 km/h Hannover-Messe,122 km/h Braunschweig Flughafen - Quelle UWZ). Auch in Hamburg wurden orkanartige Böen gemessen. Die Böen basierten zu diesem Zeitpunkt noch auf dem starken Gradienten rückseitig und südlich des Kernes und auf der raschen Verlagerung des Tiefs. Zudem gab es eine Zunge bodennah trockenerer Luft, welche rückseitig der noch kaum existenten Kaltfront vorhanden war. Diese Zone in grundsätzlich labiler Umgebung konnte sich dank nur weniger Wolken und niedriger Taupunkte zudem rasch auf 15 Grad und mehr erwärmen und brachte weitere Dynamik ins Spiel, wodurch nochmals stärkere Böen möglich waren. Genau diese Zone verlagerte sich nun über Süd-Sachsen-Anhalt bis nach Sachsen und Süd-Brandenburg hinein und wurde durch den Leeeffekt am Harz/Brocken sogar noch weiter abgetrocknet und durchmischt. Folglich gab es - trotz weiter Distanz dieser Zone vom Kern - recht weit südlich ein ausgeprägtes Windmaximum. So wurden im Süden Sachsen-Anhalts vor allem um Wittenberg, Dessau bis nach Brandenburg und nach Nordsachsen hinein orkanartige Böen, teils Orkanböen gemessen [131 km/h Dessau/Rosslau (Quelle UWZ), 122 km/h Holzdorf (Quelle DWD)]. Dieser Bereich war interessanterweise nach Süden hin stark beschränkt. In Thüringen waren es meist nur Sturmböen, in Sachsen traten südlich einer Schiene Leipzig, Nossen, Dresden abseits von Schauern ebenfalls meist "nur" Sturmböen auf. Allerdings haben hier einige Schauer, welche sich an der Kaltfront entwickelten, teils auch stärkere Böen (90-100 km/h, teils darüber) hervorgebracht. Das angesprochene Feld hoher Windaktivität verlagerte sich später noch bis nach Ostsachsen weiter. Dort brachte es allerdings "nur" noch verbreitet schwere Sturmböen, vereinzelt orkanartige Böen mit sich. Durch die oben bereits angesprochenen Schauer gab es lokal aber auch Orkanböen in Ostsachsen. So wurden in Ebersbach-Neugersdorf auch 131 km/h gemessen (Quelle UWZ)!
Neben diesem Bereich kam es natürlich im gesamten Starkwindfeld von Xavier, welches zwischen 15 und 16 Uhr vor allem zwischen Nordsachsen und Mecklenburg-Vorpommern lag, vielfach zu schweren Sturmböen und orkanartigen Böen. Insbesondere nahe des Kernes traten wohl - angesichts der Schäden - auch weiterhin einige Orkanböen auf. Xavier vertiefte sich aber noch weiter und erreichte seinen minimalen Kerndruck von 985 hPa nördlich von Berlin gegen 16-17 Uhr. Der Gradient nahm folglich noch einmal zu, was über Brandenburg und Berlin zwischen 16 und 19 Uhr verbreitet zu orkanartigen Böen und teils Orkanböen um 120 km/h führte! Vor im Havelland und um Berlin traten dabei Orkanböen auf, welche teilweise auch 130-140 km/h erreichten (Berlin Wannsee mit 137 km/h - Quelle UWZ). Angesichts der Schäden sind auch geringfügig höhere Spitzen lokal nicht ausgeschlossen.
Angesichts der Entwicklung und der besonders hohen Windgeschwindigkeiten im Berliner Raum ist neben der Zunahme des rückseitigen Druckgradienten hinter dem Kern noch ein Sting-Jet in Betracht zu ziehen. Tatsächlich ist auf den Wasserdampf-Satelliten-Bildern erkennbar, dass der Kern bei Berlin nochmal von trockenerer Luft überlaufen wird (siehe Wasserdampfbild 16 Uhr - Quelle: Kachelmannwetter), während gleichzeitig die Niederschlagsschleppe der Warmfront rückseitig des Kernes in diese hineingeführt wird (siehe Radarbild 16 Uhr - Quelle: Kachelmannwetter). Auch die Satellitenbilder deuten einen "Stachel" an der herumgeholten Warmfrontbewölkung an, welcher auf einen Sting-Jet hindeutet und auch namensgebend ist (siehe Satellitenbild 17 Uhr - Quelle: Kachelmannwetter). Ich gehe daher - basierend auf den genannten Daten - von einer Sting-Jet-Entwicklung bei Berlin aus, welche sich bis Polen hinein halten konnte. Das deuten auch wieder die Wasserdampf-Satellitenaufnahmen an. Bis nach Polen hinein traten in einem breiten Bereich in der Mitte Polens orkanartige Böen und Orkanböen auf. Erst vor Mitternacht füllte sich das Tief wieder auf und schwächte sich merklich ab, sodass es in Ostpolen meist nur noch Sturmböen gab.
Beeindruckende Windspitzen gab es übrigens auch auf einigen Bergen. Der Brocken erreichte 178 km/h, die Schneekoppe im Riesengebirge sogar 202 km/h. Auf dem Fichtelberg im Erzgebirge waren es immer noch 135 km/h.
Orkan Xavier - Chasingbericht mit Video aus dem Landkreis Nordsachsen
Nach einer deutschlandweiten Betrachtung der Entwicklung von Xavier möchte ich nachfolgend beschreiben, wie ich den Sturm erlebt habe. Da sich bereits in den Vorläufen der Modellrechnungen andeutete, dass das Haupsturmfeld eher nördlich liegen wird, habe ich von Freiberg in Mittelsachsen in den Kreis Nordsachsen verlegt. Wie sich letztlich zeigte, was dies genau richtig, da Nordsachsen in ganz Sachsen am heftigsten vom Sturm getroffen wurde. Ich startete noch bei warmfrontgebundenem Regen in Freiberg und kam etwa 15 Uhr im Raum Eilenburg in Nordsachsen an. Inzwischen hatte es aufgelockert und die Sonne schien dort bei wechselnder Bewölkung. Mit Abzug der Warmfront setzten aber überraschend schnell schwere Sturmböen ein, lokal gab es erste orkanartige Böen sowie die ersten Schäden. Vermutlich hatte hier bereits der Leeffekt vom Harz den eigentlich stabilieren Warmsektorbereich destabilisert, wodurch solche Böen herabgemischt werden konnten. Teils konnte man sich kaum auf den Beinen halten. Auch der Mittelwind war beachtlich. Gegen 15:30 überquerte mich die etwas auflebende Kaltfront mit einer lockeren Schauerlinie, welche auch einige heftige Böen im Gepäck hatte. Diese waren aber nicht stärker als zuvor im Warmsektor. Danach wurde es wieder sonnig und mit 15 Grad sogar milder als zuvor. Zudem gingen die Taupunkte zurück und das oben in der deutschlandweiten Betrachtung angesprochene trockenere und wärmere Luftmassenfeld zog in der Folge auch über meinen Standort. Vielfach rauschten nun schwere Sturmböen und orkanartige Böen über die Region hinweg. Immer mehr Feuerwehren rückten zu Einsätzen aus - es gab zahlreiche Notrufe. Immer wieder blockierten umgestürzte Bäume oder abgebrochene Äste die Straßen. Die Stimmung war schon beeindruckend - der schwere Sturm bei an sich wunderbarem Wetter. Bei Doberschütz nahe Eilenburg konnte ich am Nachmittag zwischen 16:30 und 17 Uhr mit dem Windmesser einen Mittelwind von 74 km/h bei Spitzenböen zwischen 100 und 105 km/h auf nichtmal 2 m Höhe messen. Auf die normierte Standardmesshöhe von 10 m hochgerechnet kann man locker von Böen um 110 km/h ausgehen. Das sind durchaus beachtliche Werte - gerade auch für Anfang Oktober! Der Wind nahm im Laufe des späten Nachmittags/Abends nur zögerlich ab. Immer wieder gab es noch einige heftige Nachzügler-Böen.
Nachfolgend ist das Video zum Sturm zu sehen, welches die Situation während des Sturmes im Kreis Nordsachsen zeigt. Da bei Sturm gerade bewegte Bilder am schönsten sind, habe ich auf Standbilder verzichtet und beschränke mich hier mal nur auf das Video.
Video zu Sturm/Orkan Xavier im Kreis Nordsachsen (externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=WQV5xfna33M)
Orkan Xavier - Schadensbilanz (Stand Herbst 2017)
Diese beeindruckende und komplexe Tiefdruckentwicklung war für Anfang Oktober sehr ungewöhnlich - auch was die erreichte Intensität anbelangt. Da zu dieser Jahreszeit viele Bäume aber noch Laub tragen, waren die Schäden gerade am Laubbestand dramatischer als in den Wintermonaten. Folglich waren diesmal auch viele Laubbäume betroffen, welche im Winter oft eine hohe Standfestigkeit aufweisen. Insgesamt verursachte der Sturm immense Schäden. Insgesamt sind 870.000 Festmeter (fm) Bruchholz allein in Brandenburg durch den Sturm angefallen, was deutlich mehr als einer Million Bäume entspricht (Stand Dez. 2017). In Sachsen-Anhalt wurden mehr als 300.000 fm gebrochen oder geworfen (Stand November 2017). Auch in Niedersachsen und Teilen Mecklenburg-Vorpommers sind insgesamt mehrere 100.000 fm Sturmholz angefallen (Stand November 2017).
Der Sturm führte auch zu beeindruckenden Einsatzzahlen: Die Berliner Feuerwehr rückte zu mehr als 3000 Einsätzen aus und der Ausnahmezustand für Berlin wurde mehrere Tage aufrecht erhalten. Solche Einsatzzahlen gab es nicht mal nach dem schweren Gewittersturm in Berlin im Juli 2002. Auch Hamburg meldete mehr als 1500 Einsätze, Bremen mehr als 400, die Stadt Magdeburg mehr als 300 Einsätze - nur um einige wenige Beispiele zu nennen. Der Zug- und Schienenverkehr kam im betroffenen Gebiet teils für mehrere Tage zum erliegen. Insbesondere am Abend des 05.10. saßen viele Reisende in Zügen und an Bahnhöfen fest. Weiterhin kam es zu Stromausfällen, in Folge derer mehr als 100.000 Haushalte ohne Strom auskommen mussten. Die Schäden allein in Deutschand werden weit im dreistelligen Millionenbereich liegen und die Aufräumarbeiten in den Wäldern Monate dauern. Durch den Sturm kamen in Deutschland 7 Personen ums Leben, viele wurden verletzt.
Schwere Schäden wurden auch aus Polen gemeldet. Hier rückten die Feuerwehren zu mehr als 10.000 Einsätzen aus. Leider gab es auch in Polen 2 Todesopfer in Folge des Sturmes. Zahlreiche Menschen wurden verletzt. Orkan Xavier verursachte hier auch massive Stromausfälle. Insgesamt waren zeitweise mehr als 800.000 Haushalte ohne Elektrizität! Die Schadholzmenge in Westpolen wird mit mehr als 910.000 fm angegeben (Stand November 2017).
In Sachsen war vor allem der Kreis Nordsachsen betroffen. Hier waren tausende Haushalte ohne Strom und die Feuerwehr musste allein am 5.10. zu mehr als 100 Einsätzen ausrücken. Allein im Raum Delitzsch waren es gut 30 Einsatzstellen. In den Wäldern im Kreis geht man von mehreren tausend Festmetern Bruchholz aus - sachsenweit von ca. 50.000 Festmetern, angefallen vor allem in den nördlichen Landesteilen (Stand Herbst 2017)! Aber auch im Kreis Meißen und in Ostsachsen rückte die Feuerwehr zu zahlreichen Einsätzen aus. In Südsachsen waren es nur lokale Einsatzstellen insbesondere durch die angesprochenen Schauerböen.
© Michel Oelschlägel |
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